Ende Dezember veröffentlichte die Partei Bündnis 90/Die Grünen ihre Strategie für eine zukünftige Organisation der Bahn.[1] Den grundsätzlichen Zielen dieses Konzepts ist absolut zuzustimmen: Mehr Verkehr auf der Schiene, die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken und eine bessere und zuverlässigere Bahn. Zu diesem Zweck soll die bisherige Organisationsform der Aktiengesellschaft für die Deutsche Bahn (DB) endlich verändert werden. Auch dass das Schienennetz keine Bilanzgewinne mehr erzielen soll, ist eine sinnvolle Forderung. Schließlich ist das dafür zuständige Tochterunternehmen DB Netz AG inzwischen der mit Abstand größte Gewinnbringer des DB-Konzerns, steht dabei aber immer im gefährlichen Spannungsfeld zwischen dem Aufschieben von teuren Instandhaltungsmaßnahmen und den staatlichen Zuschüssen zum Unterhalt des Netzes – ein wesentlicher Grund für den schlechten Zustand vieler Gleise. Das Konzept der Grünen beinhaltet aber auch die Trennung des Schienennetzes und des Bahnbetriebs auf diesem Netz, der in eine GmbH überführt werden soll. Diesen Vorschlag hat auch die CDU – in Vorfreude auf eine mögliche schwarz-grüne Regierung – sofort begeistert aufgenommen. Doch eine solche Trennung hätte eine Reihe von negativen Auswirkungen auf den Bahnverkehr. Und der mit dieser Trennung letztlich beabsichtigte Wettbewerb verschiedener Eisenbahnverkehrsunternehmen auf dem Schienennetz bringt weitere Probleme mit sich, weil er zu einem scharfen Konkurrenzdruck zwischen den Unternehmen führt und Synergien zerstört. Um diese Konsequenzen und die Alternativen zu dieser Orientierung auf Trennung und Wettbewerb soll es in diesem Artikel gehen.
Schauen wir zuerst auf die ganz grundsätzlichen Probleme der vorgeschlagenen Trennung von Netz und Betrieb. Viele der großen öffentlichen Bahnunternehmen verweisen immer wieder darauf, wie wichtig stattdessen der integrierte Betrieb von Netz und Zügen sei – unter anderem die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB), die immerhin den europaweit dichtesten Zugverkehr mit einer dennoch sehr guten Qualität auf ihrem Netz realisieren. Nun mögen die Wettbewerbsbefürworter einwenden, dass dies rein aus dem Eigeninteresse der großen Staatsbahnen argumentiert sei, die eben nicht gerne zerschlagen und entmachtet werden wollten. Tatsächlich gibt es aber eine Reihe von Argumenten, die auch unabhängig davon gegen eine solche Trennung sprechen. Die Interessen eines reinen Netzbetreibers und eines reinen Verkehrsunternehmens sind oft höchst unterschiedlich – und entsprechend optimieren beide ihre Kosten auf jeweils ihre eigene Weise, die oft den Interessen der anderen Seite zuwiderläuft und negative Auswirkungen auf das Gesamtsystem Bahn hat.
Anschaulich wird dies bei der Frage zusätzlicher Zugverbindungen. Sind Netz und Betrieb getrennt, so sind für den Zugbetreiber die Trassengebühren, die er für die Benutzung des Netzes zahlt, fixe Unkosten, die er an die Netzgesellschaft zahlt. Sind diese – plus die weiteren Kosten für den Zug, Energie, Personal usw. – höher als die erwarteten Einnahmen, so wird der Betreiber keinen zusätzlichen Zug fahren lassen. Nach der gleichen Logik wird er möglicherweise gar vorhandene Zugverbindungen streichen. Mit dieser Rechnung hat beispielsweise die DB AG im Jahr 2016 ihre Nachtzüge abgeschafft, die seitdem massiv im europaweiten Fernverkehr fehlen. In ihrer Rechnung waren die Trassengebühren, die die Nachtzugsparte an die Netzsparte zahlt und die rund ein Drittel der Kosten eines Zuges ausmachen, unveränderliche Unkosten.[2] Ein integriertes Bahnunternehmen könnte hingegen eine ganz andere Betrachtung durchführen: Der Großteil der Unkosten für das Netz (die sog. Fixkosten) ist nicht zu verändern, und ein zusätzlicher Zug verursacht nur überschaubare zusätzliche Kosten (u.a. für den Verschleiß der Gleise und die Fahrdienstleister im Stellwerk – die sog. variablen Kosten). So kann jeder zusätzlicher Zug, der auf dem Netz fährt, zur Deckung der allgemeinen Unkosten beitragen. Die heutige DB AG agiert in diesem Sinne übrigens auch heute meist nicht als integriertes Unternehmen, da sie die verschiedenen Bereiche des Konzerns zumindest nach außen hin rechnerisch trennt.
Für einen dichteren oder zuverlässigeren Betrieb der Züge sind oft Maßnahmen am Netz notwendig, beispielsweise der Bau von Ausweichgleisen, Überleitstellen oder kürzere Abstände zwischen den Signalen. Das Netz-Unternehmen hat aber – wenn es nicht wesentlich höhere Einnahmen durch die zusätzlichen Züge erzielt – erst einmal kein Interesse an diesen Maßnahmen, die natürlich Geld kosten. Es möchte stattdessen ein möglichst einfaches Netz betreiben, weil dies günstiger ist. Auch hier kann wiederum nur ein integriertes Unternehmen die Gesamtrechnung aufmachen und die Investitionskosten bei der Infrastruktur mit den Vorteilen im Betrieb verknüpfen. Das gilt insbesondere für viele der in den nächsten Jahren notwendigen Innovationen im Bahnbetrieb, etwa die Umstellung der Zugsicherung auf das europäische System ETCS[3] oder die Ablösung von Dieseltriebwagen durch kombinierte Oberleitungs/Akku-Triebwagen, für die an bestimmten Punkten zusätzliche Oberleitungs-Abschnitte gebaut werden oder Anpassungen an bestehenden Oberleitungen vorgenommen werden müssen.[4] Bei beiden sind Veränderungen am Netz und an den Zügen notwendig, die aufeinander abgestimmt werden müssen, und langfristig verschieben sich auch Kosten zwischen beiden (z.B. ist ETCS langfristig für den Netzbetreiber günstiger, erfordert aber mehr technischen Aufwand in den Zügen).
Ähnlich sieht es beim Baustellenmanagement aus – schon heute ein großer Streitpunkt zwischen Verkehrsunternehmen und der DB Netz AG als Infrastrukturunternehmen: Für letztere ist es am günstigsten, die Strecke zeitweise ganz zu sperren, um die Baumaßnahmen ohne Beeinträchtigungen und aufwändige Sicherungsmaßnahmen relativ schnell und mit viel Maschineneinsatz durchführen zu können. Das „kapazitätsschonende“ Bauen, bei dem zumindest der Großteil des Verkehrs weiter abgewickelt werden kann, ist hingegen sehr viel komplizierter und ist teurer, weil nur einzelne Gleise gesperrt werden können und teilweise sogar temporäre Weichen oder Signale eingebaut werden müssen, um den Verkehr dennoch zu ermöglichen, und die Baumaßnahmen zeitlich eingeschränkt werden müssen. Auch hier sind die Interessen des Netzbetreibers und der Verkehrsunternehmen gegensätzlich.
Und auch bei den Bahnhöfen als dem Start- und Endpunkt jeder Bahnreise ziehen Infrastrukturunternehmen (in Deutschland meist die DB Station und Service GmbH) und Zugbetreiber oft nicht an einem Strang: Das Infrastrukturunternehmen möchte den Bahnhof möglichst billig, d.h. mit wenig Personaleinsatz und wenig Komfort, betreiben und gleichzeitig möglichst viele Einnahmen mit den Geschäften im Bahnhof erzielen. Der Zugbetreiber möchte hingegen Komfort, Personal und Informationen für seine Fahrgäste – legt aber dafür wenig Wert auf ganze Shopping-Malls im Bahnhof. Das beste Ergebnis für die Fahrgäste lässt sich auch hier wieder mit der Integration von beidem erreichen. Das kann man u.a. bei der Usedomer Bäderbahn bewundern, die – als integrierter Betreiber von Zügen und Netz inkl. Bahnhöfen – ein einmaliges Netz von liebevoll restaurierten Regionalbahnhöfen – in der Regel mit Servicepersonal – betreibt[5], während sonst gerade Bahnhöfe auf dem Land oft wenig einladend sind und offensichtlich stark vernachlässigt werden.
Einige dieser Interessengegensätze lassen sich möglicherweise auf Umwegen durch eine entsprechende Regulierung auflösen, aber es entstehen dabei immer wieder neue Schwierigkeiten – eben weil die Trennung das eigentliche Problem ist. Das zeigt sich an dem sehr komplexen Eisenbahnregulierungsgesetz (ERegG), das im „Eisenbahnmarkt“ für einen Wettbewerb zwischen den Unternehmen sorgen soll und ständig weiter angepasst werden muss, um die diversen Probleme und Interessenkonflikte zu lösen. Und es ist durchaus bezeichnend, dass die Trennung immer wieder in einzelnen Bereichen rückgängig gemacht wird, um Problemen im Bahnbetrieb zu begegnen: Beim DB-Projekt „PlanStart“ für eine Verbesserung der Pünktlichkeit im Fernverkehr wurden beispielsweise seit 2019 wieder Bahnhofsaufsichten eingeführt, die zuvor im Zuge der konzerninternen Trennung zwischen Betrieb (DB Fernverkehr) und Netz (DB Station & Service) abgeschafft worden waren.
Abgesehen von den beschriebenen Nachteilen der Trennung gibt es aber auch erhebliche Probleme mit dem Wettbewerb im Bahnbetrieb als solchem. Einen Wettbewerb zumindest mit großen Ähnlichkeiten zu dem, was die Grünen nun für den Bahn-Fernverkehr vorschlagen, gibt es in Deutschland bereits: Im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) werden die Verkehrsleistungen in der Regel von den Aufgabenträgen (also den Bundesländern oder ihrerseits beauftragten Verkehrsverbünden o.ä.) ausgeschrieben, und neben der Deutschen Bahn AG (DB AG) können sich auch andere Eisenbahnverkehrsunternehmen darauf bewerben. Tatsächlich geht dabei inzwischen rund die Hälfte der Zuschläge an andere Unternehmen – bei denen es sich im Übrigen oft nicht um private Unternehmen, sondern vielfach um Tochterunternehmen der Staatsbahnen anderer EU-Länder handelt. Die Befürworter dieses Ausschreibungswettbewerbs verweisen auf die verbesserte Qualität bei gleichzeitig gesunkenen Kosten und die dadurch gestiegenen Fahrgastzahlen. Tatsächlich lassen sich diese positiven Effekte aber vor allem auf verbesserte Konzepte der Aufgabenträger, die seitdem sehr viel bessere Finanzierung des SPNV sowie auf technische Innovationen zurückführen, die auch ohne solche Ausschreibungen möglich sind. Das zeigt unter anderem das Schweizer Modell, von dem weiter unten noch die Rede sein wird. Und umgekehrt gibt es bei diesem Ausschreibungswettbewerb immer wieder erhebliche Probleme mit der Qualität des Bahnverkehrs bis hin zum Komplett-Ausfall von Zugverbindungen oder gar ganzen Unternehmen.[6]
Lange Zeit waren zudem die Löhne der Beschäftigten das hauptsächliche Feld für Einsparungen bei den mit der DB AG konkurrierenden Unternehmen im SPNV. Teilweise bezahlten einige der Unternehmen ihr Personal weit unter den Tarifen – was ihnen natürlich einen erheblichen Kostenvorteil gegenüber der DB AG brachte. Abgesehen davon, dass gute Arbeitsbedingung und auskömmliche Löhne für sich wichtig sind, ist diese Strategie mit den zunehmenden Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Bahnpersonal und der immer stärkeren Position der Bahn-Gewerkschaften ohnehin nicht mehr möglich. Dadurch sind für viele der Bahnunternehmen in den letzten Jahren die Gewinne weggebrochen.
Grundsätzlich stehen die Aufgabenträger – im SPNV die Bundesländer und im Bahn-Fernverkehr eine noch zu schaffende Bundes-Institution – bei dieser Form des Ausschreibungswettbewerbs immer in einem schwierigen Spannungsfeld: Auf der einen Seite wollen sei möglichst innovative Konzepte ermöglichen, und dafür müssen die Vorgaben bei der Ausschreibung möglichst offen sein. Auf der anderen Seite haben solche offenen Ausschreibungen seit den 1990er Jahren aber immer wieder erhebliche Probleme im Betrieb und eine uneinheitliche, oft mangelhafte Qualität zur Folge – im SPNV z.B. zu wenig und unterqualifiziertes Personal und verspätete, ausfallende oder zu kurze und unkomfortable Züge. Daher machen die Aufgabenträger im SPNV bei den Ausschreibungen zunehmend genauere Vorgaben, und immer mehr Bundesländer schaffen sogar die Züge gleich selbst an. Baden-Württemberg bildet als erstes Bundesland inzwischen sogar selbst Personal aus und stellt es ein, um dadurch Zugausfälle aufgrund von Personalmangel bei den Betreiberunternehmen zu vermeiden. Durch diese immer engeren Vorgaben haben die Verkehrsunternehmen, die sich an der Ausschreibung beteiligen, letztlich kaum noch Spielräume – was sie auch selbst bemängeln. Eine Folge davon ist, dass sich zunehmend weniger Unternehmen überhaupt an diesen gleichzeitig zunehmend aufwändigen und damit für alle Seiten teuren Ausschreibungen beteiligen. Und wenn das Bundesland oder der von ihm beauftragte Verkehrsverbund das Konzept für den Bahnverkehr schon so genau festgelegt hat, stellt sich die Frage, warum es diesen dann nicht gleich selbst betreibt – beispielsweise über eine Landesbahn, wie sie in einigen Ländern bereits existiert. Dies wäre deutlich einfacher und risikoärmer. Auch einige Ökonomen schlagen inzwischen die Direktvergabe von SPNV-Leistungen an landeseigenen Bahnen als bessere Alternative zum bisherigen Ausschreibungswettbewerb vor.[7]
Gerade im Schienenpersonenfernverkehr kommt es auf eine einheitliche, verlässliche Qualität im ganzen Land an. Und mehr noch als im Nahverkehr geht es um das reibungslose Funktionieren der Bahn als Netzwerk. Das heißt: Alle Züge müssen aufeinander abgestimmt sein – was besonders im Falle von Verspätungen oder gar Zugausfällen funktionieren muss, z.B. wenn Züge aufeinander warten. Spätestens mit dem Deutschlandtakt, mit dem zukünftig die Fahrpläne im ganzen Land optimal aufeinander abgestimmt werden sollen, sind die Fahrpläne sogar exakt vorgegeben – und damit vielfach auch die Züge, die dafür überhaupt in Frage kommen. Vermutlich würde es daher beim konsequenten Durchdenken der Grünen-Strategie auch im Fernverkehr auf einen bundeseigenen Fahrzeugpool hinauslaufen, d.h. der Bund kauft selbst die Züge – auch weil sich sonst schon aufgrund der gigantischen Summen zur Finanzierung kaum andere Unternehmen als die DB an der Ausschreibung beteiligen könnten. Genau wie im SPNV stellt sich dann aber auch im Fernverkehr die Frage, welche Spielräume die Verkehrsunternehmen beim Betrieb überhaupt noch hätten und ob nicht der Betrieb unter der Obhut des Bundes die einfachere und zuverlässigere Alternative wäre.
Bei verschiedenen Betreiberunternehmen, zumal wenn diese rein gewinnorientiert wären, blieben hingegen immer Risiken: Sie können sich bei der Ausschreibung verkalkuliert haben und nicht genügend Personal rekrutiert haben, so dass Züge oder ganze Linien ausfallen. Oder ein Unternehmen kann sogar ganz bankrottgehen und damit von einem auf den anderen Tag ausfallen. Dass dies keine reine Schwarzmalerei ist, zeigt wiederum der deutsche SPNV-Wettbewerb, wo all dies bereits ganz real passiert ist.[8] Solange es die DB als großes, bundeseigenes Unternehmen gibt, das notfalls immer einspringen kann, lassen sich viele dieser Probleme auffangen – aber bei dem angestrebten Wettbewerb geht es ja gerade darum, statt der großen DB viele kleinere Unternehmen zu schaffen. Dabei hat ein großes Unternehmen entscheidende Vorteile gegenüber der Zerschlagung des Betriebes in viele kleinere Unternehmen – beispielsweise bei der Vorhaltung von genügend Personal oder von Notfallkapazitäten wie Abschlepploks oder Reservezügen, die zudem an möglichst vielen Orten im ganzen Netz zur Verfügung stehen müssen. Dadurch führt die Aufteilung in viele kleinere Unternehmen letztlich zu einem unzuverlässigeren Bahnbetrieb. Zusätzlich verschärft wird dieses Problem, wenn die Betreiberunternehmen ihrerseits wieder weitere Subunternehmen beauftragen, etwa für die Wartung der Züge oder das Personal.
Die Konsequenzen verschiedener Betreibermodelle für den Bahnbetrieb lassen sich am besten am Vergleich Großbritanniens und der Schweiz zeigen: Großbritannien hat die Ausschreibungen des Bahnbetriebs im Wettbewerb am konsequentesten umgesetzt[9], während die Bahn in der Schweiz fast komplett öffentlich ist und der Personen-Fernverkehr quasi vollständig von den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) betrieben wird – in enger Kooperation mit kantonalen Bahnunternehmen im Regionalverkehr. Und während das Schweizer System vielfach als das beste in Europa angesehen wird – mit einem perfekt abgestimmten integralen Taktfahrplan und einem sehr zuverlässigen Verkehr – hat das britische Modell mit einer Reihe von erheblichen Problemen zu kämpfen. Das hat auch eine Studie im Auftrag des britischen Staates ergeben, der zufolge die britische Bahn um 40 Prozent ineffizienter ist als andere europäische Bahnen und die britischen Steuerzahlenden dadurch deutlich mehr Geld kostet als notwendig. Während jeder Kilometer, den ein Fahrgast mit der Bahn zurücklegt, in Großbritannien Gesamtkosten von umgerechnet 24,3 €-Cent verursacht, kostet er in der Schweiz mit umgerechnet 13,5 €-Cent nur gut halb so viel. Als wesentlichen Grund für diese hohen Kosten analysierte die Studie die Fragmentierung der Strukturen durch die vielen verschiedenen Betreiberunternehmen.[10]
Die Situation in der Covid-19-Pandemie illustriert aktuell die unterschiedlichen Möglichkeiten einer staatlichen Bahn und eines reinen Privatunternehmens, das rein betriebswirtschaftlich denken muss: Während die bundeseigene DB AG den Betrieb des Bahn-Fernverkehrs trotz geringer Fahrgastzahlen mit Ausnahme einiger Verstärkerzüge aufrechterhalten hat und auch während der aktuellen Einschränkungen noch immer weitgehend aufrechterhält, hat der private Konkurrent Flixtrain seine Verbindungen gleich zum Beginn der Pandemie komplett eingestellt. Der Betrieb von Zügen unter den momentanen Bedingungen ist rein betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll, erfüllt aber dennoch einen wichtigen Zweck, nämlich die Grundversorgung mit Mobilität im ganzen Land. Die Verluste für die Vorhaltung von Zügen und Personal, die nicht fahren, kann Flixtrain dabei übrigens elegant abwälzen, denn das Unternehmen versteht sich selbst nur als Vertriebsplattform, beauftragt aber wiederum andere Unternehmen mit dem tatsächlichen Betrieb der Züge, die nun mit dem Großteil der Kosten dastehen.[11] Auch die DB AG erwirtschaftet aufgrund der erheblich eingebrochenen Fahrgastzahlen momentan erhebliche Verluste mit dem Fernverkehr. Als Unternehmen zu 100% im Bundesbesitz kann es für diese – im Sinne ihrer verkehrlichen Funktion – aber staatliche Zuschüsse verlangen. In welcher Weise und wann genau diese ausgezahlt werden, ist momentan noch Gegenstand von Verhandlungen mit der EU-Kommission, die dies erst genehmigen muss. Die problematische Zwitter-Funktion als staatliche Bahn und gleichzeitig international tätiger Mobilitätskonzern ist für die DB AG dabei problematisch, denn es ist in dem riesigen Konzern kaum nachvollziehbar, wohin genau die Hilfsgelder fließen. Deswegen klagt das Flixtrain-Betreiberunternehmen Flixmobility gegen diese Hilfen. Gäbe es allerdings nur Unternehmen wie Flixtrain, wäre seit dem Beginn der Pandemie der Bahn-Fernverkehr in Deutschland wohl komplett eingestellt. Der staatliche Betreiber garantiert hingegen bislang die Aufrechterhaltung der Mobilität.
Ein kurzer Blick wiederum nach Großbritannien zeigt, dass auch diese Gefahr absolut real ist: Dort musste der Staat in der Corona-Krise den Bahnbetrieb von den privaten Unternehmen in seine Obhut übernehmen, um den Weiterbetrieb des Zugverkehrs zu gewährleisten. Eines der betroffenen Unternehmen ist dabei übrigens das DB-Tochterunternehmen Arriva, das bis dahin zahlreiche britische Bahnlinien betrieben hatte.[12]
Sollte also bei der Bahn einfach alles bleiben, wie es ist? Auch das ist nicht zu wünschen, denn die heutige DB AG ist als Aktiengesellschaft im Bundesbesitz ein ungünstiger Zwitter aus Privatunternehmen und Staatsunternehmen. Sie ist formell auf Gewinn hin orientiert, und bei vielen wichtigen Entscheidungen verweigert die Bundesregierung die politische Verantwortung und verweist stattdessen auf die „Eigenwirtschaftlichkeit“ des Konzerns – während sie gleichzeitig punktuell erheblichen Einfluss nimmt. Diese DB AG versteht sich immer noch als internationaler Logistikkonzern, für den der Bahnverkehr im Inland nur eines von vielen Geschäftsfeldern ist, und sie ist inzwischen selbst in mehrere hundert Unternehmen aufgegliedert, die vielfach nicht gut zusammenarbeiten. Die bessere Alternative wäre stattdessen eine gemeinwohlorientierte Deutsche Bahn ohne das Ziel einer Rendite, die sich auf ihr Kerngeschäft Bahn konzentriert und auf sinnvolle politische Ziele hin ausgerichtet ist. Dies müsste an erster Stelle ein zuverlässiger, flächendeckender, komfortabler und bezahlbarer Bahnverkehr für alle Menschen im Land sein. Das muss umgekehrt nicht heißen, dass diese Bahn unwirtschaftlich sein muss, aber sie hätte im Rahmen der politischen Vorgaben lediglich die Aufgabe, eine „schwarze Null“ zu erwirtschaften anstatt von (scheinbaren) Gewinnen, die letztlich immer aus den sehr viel höheren staatlichen Zuschüssen resultieren.[13]
Momentan sind auch die Regelungen der EU zwar komplett auf den „Eisenbahnmarkt“, eine Trennung von Netz und Betrieb und den Wettbewerb möglichst vieler Bahnunternehmen hin ausgerichtet. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen jedoch überall in der EU, dass dies zu keinem guten Bahnverkehr geführt hat. Diese Regelungen sind jedoch politisch änderbar – zumal wenn wichtige Länder wie Deutschland und Frankreich dies befürworten. Der Schlüssel auf allen Ebenen – auch auf europäischer – ist die Kooperation anstelle der Konkurrenz, denn Bahn im Sinne der Fahrgäste funktioniert am besten als möglichst gut aufeinander abgestimmtes Netzwerk. Die ohnehin erheblichen Umbrüche im Zuge der Covid-19-Pandemie könnten eine gute Gelegenheit für eine komplette Neuordnung der Mobilität in Europa sein – mit einer klimapolitisch dringend gebotenen erheblichen Verkehrsverlagerung von der Straße und aus der Luft auf die Schiene.
Anmerkungen:
[1] https://bahnstrategie.matthias-gastel.de/ Das Konzept beruht unter anderem auf der Studie der wettbewerbsfreundlichen Beratungsfirma KCW: Berschin, Felix/Naumann, René/Nolte, Julian (2019): Der Deutschlandtakt – Bewertung von Organisationsvarianten zur Umsetzung eines flächendeckenden Taktfahrplans. Berlin: KCW.
[2] Siehe dazu auch die Blogbeiträge unter http://mobilitaetswen.de/die-nachtzuege-schon-wieder-das-ende-eines-zugsystems/ und http://mobilitaetswen.de/nachtzuege-als-klimaschuetzer
[3] ETCS = European Train Control System. Dieses System soll zukünftig die in Deutschland bestehenden Zugsicherungssysteme PZB und LZB ablösen.
[4] Es kann langfristig deutlich günstiger sein, die Züge mit kleineren Akkus auszustatten, im Gegenzug aber mehr Bereiche im Netz zu elektrifizieren oder bestehende Oberleitungen so zu modifizieren, dass die Züge mehr Energie abnehmen können, um während der Fahrt gleichzeitig ihren Akku (wieder) aufzuladen. Möglicherweise ist sogar die Elektrifizierung mit Oberleitung insgesamt am günstigsten. Auch hier muss letztlich das System aus Netz und Zugbetrieb als Ganzes optimiert werden.
[5] https://www.ubb-online.com/ Das Unternehmen hat auch das früher stark vernachlässigte Netz so umgebaut, dass es für den dortigen Halbstundentakt der Regionalzüge gut funktioniert.
[6] Eine ausführliche Analyse des Wettbewerbs im SPNV ist hier zu finden: http://mobilitaetswen.de/der-wettbewerb-im-schienenpersonennahverkehr-ein-auslaufmodell/
[7] vgl. Becker, T., Leister, H., Beckers, T., Wichmann, A. & Weiß, H. (2020): Optionen und Empfehlungen bezüglich der Weiterentwicklung der Organisation der Leistungserbringung im Thüringer SPNV. Studie im Auftrag der Staatskanzlei des Freistaats Thüringen
[8] Konkrete Beispiele sind in diesem Beitrag geschildert: http://mobilitaetswen.de/der-wettbewerb-im-schienenpersonennahverkehr-ein-auslaufmodell/
[9] Bei der Privatisierung der britischen Bahn im Jahr 1994 war anfangs auch das Netz privatisiert worden. Es wurde jedoch von dem Netzunternehmen „Railtrack“ nur unzureichend instandgehalten und musste daher wieder in staatliche Obhut (als „Network Rail“) übernommen und für viele Milliarden brit. Pfund instandgesetzt werden. Seitdem wird nur noch der Betrieb von privaten Unternehmen durchgeführt.
[10] Department for Transport (2011): Realising the potential of GB rail. Report of the Rail Value for Money Study. London: Department for Transport.
[11] Flixtrain hat sich während der Einschränkungen im Frühjahr 2020 darüber mit dem bisherigen Betreiber der Züge zerstritten und hat daher ein neues Partnerunternehmen gesucht. Das gleiche Modell gilt im Übrigen auch bei den „Flixbussen“, wo der größte Teil des Risikos bei den meist mittelständischen Busunternehmen liegt.
[12] Zastiral, Sascha / Schlesiger, Christian (2020): Unter Londons Knute. In: Wirtschaftswoche vom 21.8.2020, S. 48.
[13] Die Kritik am DB-Konzern ist in dem jährlich erscheinenden „Alternativen Geschäftsbericht“ vom Bündnis Bahn für Alle im Detail ausgeführt: https://bahn-fuer-alle.de/alternativer-geschaeftsbericht-der-deutschen-bahn-ag/