Die neue, nicht mehr ganz so große Koalition („GroKo“) aus CDU/CSU und SPD hat sich – wenn sie denn nicht noch am Mitgliederentscheid der SPD scheitert – einiges vorgenommen für die verbleibenden dreieinhalb Jahre der Legislatur. Der Verkehr nimmt in diesem Koalitionsvertrag einen sehr viel größeren Raum ein als bei den Vorgängern – und die Ziele klingen auch erst einmal sehr gut: „Wir wollen […] für alle Menschen in Deutschland eine moderne, saubere, barrierefreie und bezahlbare Mobilität organisieren und dabei die gesellschaftlichen Herausforderungen, wie den demografischen Wandel, die Urbanisierung, Anbindung ländlicher Räume und Globalisierung, meistern.“[1]
Bei so großen Zielen liegt die Umsetzung nicht gleich auf der Hand – und entsprechend phantasielos geht es denn auch weiter: Man liest wieder einmal vor allem von der Mobilität mit dem Auto, die Rezepte sind auch altbekannt: Im Fokus steht vor allem das Elektroauto. Außerdem werden – wieder einmal – Rekord-Investitionen in die Infrastruktur versprochen. „Investitionshochlauf“ ist ja schon seit geraumer Zeit das Lieblingswort fast aller Verkehrspolitiker. Dabei sollen wie immer alle Verkehrsträger etwas bekommen. Eine klare Strategie sähe anders aus. Wenn alle irgendwie etwas bekommen, wird wieder nur etwas mehr Verkehr generiert, aber es gibt keine Verschiebung zwischen den Verkehrsträgern. Von einer Verkehrs- oder gar Mobilitätswende mit weniger Auto- und Luftverkehr also keine Spur.
Zur Bahn liest man immerhin sehr viel Konkreteres als beispielsweise im letzten Koalitionsvertrag der Vorgänger-GroKo von 2013 und gleich zu Beginn eine erfreuliche Zielsetzung: „Für uns steht als Eigentümer der Deutschen Bahn AG nicht die Maximierung des Gewinns, sondern eine sinnvolle Maximierung des Verkehrs auf der Schiene im Vordergrund.“[2] Wenn man das ernst nimmt, ergibt sich daraus eigentlich direkt die Notwendigkeit einer zweite Bahnreform, in der die Deutsche Bahn von einer – gewinnorientierten – Aktiengesellschaft in eine andere, gemeinwohlorientierte Organisationsform überführt wird oder zumindest (analog zu den Schweizerischen Bundesbahnen) ein Gesetz als Rahmen erhält, das ihr klare Vorgaben jenseits der Gewinnmaximierung macht. Stattdessen sollen die Satzungen des Konzerns umgeschrieben werden – ein durchaus fragwürdiges Verfahren: „Wir werden in den Satzungen der DB Netz AG, der DB Station&Service AG sowie des Gesamtkonzerns volkswirtschaftliche Ziele wie die Steigerung des Marktanteils der Schiene festschreiben und die Vorstände der Unternehmen auf die Erfüllung der Ziele verpflichten.“[3] Es bleibt spannend, wie das mit dem Aktienrecht zusammenpasst. Zu befürchten ist, dass es wieder einmal maximal kleine Verschiebungen geben wird, nicht aber den notwendigen großen Wurf einer völlig neuen Struktur.
Sehr erfreulich ist die diesmal recht klare Ablehnung von Privatisierungen – nachdem die erste Merkel-geführte GroKo 2005 bis 2009 das Projekt Bahn-Börsengang entgegen aller Vernunft mit der Brechstange vorangetrieben hatte. Während damals die Gegnerinnen und Gegner des Börsengangs, die die Bahn als Daseinsvorsorge sehen, als Traumtänzer und Ewiggestrige beschimpft wurden, liest man genau dies inzwischen auch im Koalitionsvertrag: „Wir halten am integrierten Konzern Deutsche Bahn AG fest. Eine Privatisierung der Bahn lehnen wir ab. Das Schienennetz und die Stationen sind Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Entscheidungen, an welcher Stelle des Netzes in den Erhalt und Ausbau der Schieneninfrastruktur investiert wird, müssen durch den Bund frei von Gewinninteressen privater Dritter gefällt werden.“[4]
Die konkreten Ziele, die der neuen GroKo vorschweben, dürften im ganzen Land auf ungeteilte Zustimmung stoßen: „Pünktlichkeit, guter Service und hohe Qualität müssen das Markenzeichen der Eisenbahnen in Deutschland sein. Mit einem Schienenpakt von Politik und Wirtschaft wollen wir bis 2030 doppelt so viele Bahnkundinnen und Bahnkunden gewinnen und dabei u. a. mehr Güterverkehr auf die umweltfreundliche Schiene verlagern. Wir wollen die Maßnahmen des Masterplans Schienengüterverkehr dauerhaft umsetzen. Die Eisenbahnen müssen im Gegenzug in mehr Service, mehr Zuverlässigkeit und mehr Innovationen investieren.“[5] Klingt prima, ist aber leider so neu nicht. Im Koalitionsvertrag 2013 hieß es fast wortgleich: „Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit müssen Markenzeichen der Bahn sein. Wir werden die Geschäftspolitik der DB AG noch stärker an diesen Zielen ausrichten, ohne die Wirtschaftlichkeit infrage zu stellen. Dazu werden wir das Steuerungskonzept für die DB AG unter Berücksichtigung des Aktienrechts überarbeiten.“[6]
Die Ziele waren also auch vor mehr als vier Jahren schon die gleichen, ohne dass sich irgendetwas positiv in diese Richtung entwickelt hätte. Eine Neuausrichtung der DB AG an diesen Zielen hat entgegen dem Vertrag nicht stattgefunden, und auch auf das versprochene „Steuerungskonzept“ warten wir bis heute. Stattdessen wurstelt sich der wechselnde Bahnvorstand schon seit vielen Jahren zwischen den Ansprüchen der Wirtschaftlichkeit und der Qualität hindurch, ohne dass dieser Widerspruch jemals aufgelöst worden wäre.
Wirklich neu im aktuellen Vertrag ist allerdings die konkrete Zielsetzung, dass sich die Zahl der Bahnkundinnen und -kunden bis 2030 verdoppeln soll. An diesem Ziel könnte man die GroKo konkret messen – wenn sie denn nicht bis zu diesem Zeitpunkt schon längst wieder Geschichte wäre. Wenn das Ziel 2030 wieder einmal nicht erreicht ist, werden die Schuldigen andere gewesen sein. Und dass die Koalition selbst gesteckte Ziele auch einfach wieder ohne mit der Wimper zu zucken abräumt, hat sie ja schon bei den Klimazielen bewiesen.
Ein weiterer Dauerbrenner ist auch die Umsetzung des integralen Taktfahrplans alias Deutschlandtakt, der einen echten Qualitätssprung für den gesamten öffentlichen Verkehr im Land bringen würde: „Wir werden die Umsetzung des Deutschlandtakts vorantreiben. Die dafür vorgesehenen Aus- und Neubaumaßnahmen wollen wir bevorzugt realisieren. Unser Ziel ist, vertakteten Fernverkehr auf der Schiene deutlich zu stärken, das beinhaltet auch eine Ausweitung des Angebots auf größere Städte und Regionen, so dass mehr Menschen von Direktverbindungen im Fernverkehr profitieren. Den optimierten Zielfahrplan bestimmt die Politik. In diesem Fahrplan sind auch die notwendigen leistungsfähigen Güterverkehrstrassen enthalten. Unter Federführung des Bundesverkehrsministeriums müssen die Infrastrukturunternehmen, die Eisenbahnverkehrsunternehmen des Fernverkehrs, die Bundesländer mit den Aufgabenträgern des SPNV sowie die Öffentlichkeit inklusive der Fahrgast- und Verbraucherverbände an diesem Prozess beteiligt werden. Der weitere Ausbau der Infrastruktur muss sich am gewünschten Fahrplan ausrichten.“[7]
Der Deutschlandtakt sowie die Wieder-Anbindung von Regionen, die momentan fast völlig vom Bahn-Fernverkehr abgekoppelt sind, stehen hier völlig zu Recht im Mittelpunkt, weil sie für eine Verbesserung des Bahnverkehrs besonders wichtig sind. Auch hier ist aber viel zu lange viel zu wenig passiert – obwohl es auch im Vorgänger-Koalitionsvertrag von 2013 bereits hieß: „Die Planung der Schienenwege werden wir am Ziel eines Deutschland-Takts mit bundesweit aufeinander abgestimmten Anschlüssen sowie leistungsfähigen Güterverkehrstrassen ausrichten.“[8] Tatsächlich ist in der letzten Legislaturperiode immerhin eine zweite Studie zur Umsetzung des Deutschlandtakts beauftragt worden, in der ein solches Konzept mit mehreren Entwicklungsstufen entwickelt ist. Voraussetzung wäre eine Lenkung der Investitionsmittel in die dafür notwendigen Projekte. Der 2016 verabschiedete „Bundesverkehrswegeplan 2030“ als Masterplan für die Verkehrsinvestitionen der nächsten 15 Jahre richtet die konkreten Projekte aber nicht auf dieses Ziel aus. Daran ändert auch die neue Beschwörung des Ziels im aktuellen Koalitionsvertrag nichts, solange nicht der Bundesverkehrswegeplan noch einmal komplett umgeschrieben würde – mit einer massiven Mittelverschiebung von der Straße zur Bahn. Davon ist aber bekanntlich keine Rede.
Ähnlich sieht es bei den nächsten Versprechen des Koalitionsvertrags aus: „Bis 2025 wollen wir 70 Prozent des Schienennetzes in Deutschland elektrifizieren. Mit einer neuen Förderinitiative wollen wir regionale Schienenstrecken elektrifizieren. Wir wollen zudem mehr hindernisfreie Mobilität ermöglichen. Ein Schlüsselprojekt dabei ist das Programm zur Förderung von Barrierefreiheit auf Bahnhöfen. Wir wollen Bundesmittel für den Betrieb von Schienennebenstrecken zur Verfügung stellen sowie ein Programm zur Förderung der Mobilität im ländlichen Raum auflegen. Wir wollen Bahnhöfe und -haltestellen in den Regionen halten. […] Für ein ‚Tausend-Bahnhöfe‘-Förderprogramm zur Attraktivitätssteigerung gerade kleinerer Bahnhöfe, das Bahnanlagen und das Bahnhofsumfeld einbezieht, wollen wir die Länder, Kommunen und die Deutsche Bahn als Partner gewinnen. Damit wollen wir u.a. die Sanierung von Bahnhofsgebäuden fördern.“[9]
Alles sehr erfreuliche Pläne, aber was auch hier nicht mit dabei steht: Diese absolut sinnvollen Maßnahmen kosten Milliarden. Und in dem Vertrag steht nichts dazu, woher diese genommen werden sollen. Eine zukunftsfähige Strategie wäre es, Mittel von der Straße in eben diese Bahnprojekte zu verlagern – aber es ist eher unwahrscheinlich, dass die Koalitionspartner an solche Maßnahmen denken.
Auf keinen Fall fehlen darf natürlich das Thema Digitalisierung. Hier gewinnt man manchmal den Eindruck, dass damit auf einen Schlag alle Probleme der Bahn gelöst werden könnten: „Wir wollen die Digitalisierung der Schiene, auch auf hochbelasteten S-Bahnstrecken, vorantreiben und den Ausbau der europäischen Leit- und Sicherungstechnik ETCS, elektronischer Stellwerke und Umrüstung der Lokomotiven durch den Bund unterstützen. Die Automatisierung des Güterverkehrs und das autonome Fahren auf der Schiene wollen wir durch Forschung und Förderung unterstützen.“ [10] Und für die Fahrgäste erfreulich: „Freies WLAN an allen öffentlichen Einrichtungen, Zügen und Bahnhöfen der Deutschen Bahn.“[11]
Und dann gibt es noch die gewohnten Absichtserklärungen, die so unkonkret bleiben, dass man aus dem Nicht-Erreichen der Ziele schwerlich jemandem einen Vorwurf machen kann: „Zur Kostenentlastung und Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs wollen wir die Senkung der Trassenpreise konsequent weiterverfolgen. Wir wollen mit der DB AG eine neue Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung abschließen (LuFV III). Wesentliches Qualitätskriterium ist dabei die Netzverfügbarkeit. Zudem wollen wir Anreize für ein nutzerfreundliches Baustellenmanagement im Schienennetz schaffen. Wir werden prüfen, wie Einzelwagenverkehre wirtschaftlich betrieben werden können.“[12] Solche „Wollen“- und „Werden prüfen“-Formulierungen sollen vermutlich kaschieren, dass man sich in den Verhandlungen über die konkreten Maßnahmen uneinig war. Ob daraus greifbare Maßnahmen resultieren, die den Schienenverkehr weiterbringen, ist mehr als zweifelhaft.
Der neue Koalitionsvertrag umfasst also eine ganze Reihe sehr sinnvoller Forderungen für die Bahn. Alleine der Glaube an die Umsetzung will so recht nicht aufkommen in Anbetracht einer Koalition, die all das ja auch schon in den letzten Jahren hätte umsetzen können, sich in der Bahnpolitik stattdessen aber nur durchlaviert hat.
Verweise
[1] „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD“ 2018, S. 74
[2] ebenda, S. 78
[3] ebenda, S. 78
[4] ebenda, S. 78
[5] ebenda, S. 77
[6] „Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD“ 2013, S. 31
[7] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2018 (a.a.O.), S. 79
[8] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2013 (a.a.O.), S. 31
[9] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 2018 (a.a.O.), S. 78
[10] ebenda, S. 78
[11] ebenda, S. 12
[12] ebenda, S. 79
Eine treffende Analyse.
Es bleibt für den Leser des Koaltionsvertrages verdächtig,dass erst ein Schienenpakt zwischen der Politik und gerade der Wirtschaft geschlossen werden soll.Die Politik ist doch allein verantwortlich.
In der vorangegangenen GroKo hat sich die SPD tatenlos hinter der Untätigkeit von Verkehrsminister Dobrindt (CSU) versteckt,statt in der Koaltion die beschlossenen Schritte aus dem Koaltionsvertrag 2013 einzufordern.