Das langsame Sterben des grenzüberschreitenden Bahnverkehrs in Europa

Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist ein stetiger Niedergang des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs in Europa zu beobachten. Es gibt zwar einige erfolgreiche Prestigeprojekte wie den „Eurostar“ zwischen London und Paris, den „Thalys“ zwischen Amsterdam, Köln, Brüssel und Paris oder den Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen Paris und Frankfurt/Stuttgart. Abseits dieser Rennstrecken werden die klassischen EuroCity-Verbindungen und insbesondere die Nachtzüge aber zunehmend abgebaut. Auf vielen grenzüberschreitenden Verbindungen gibt es dadurch keine attraktiven Bahnverbindungen mehr, während der Flugverkehr beständig wächst. Insbesondere die Nachtzüge hätten hier ein erhebliches Potenzial, da sie auf längeren Strecken im Vergleich zum Flugzeug ein komfortableres Reisen mit morgendlicher Ankunft am Zielort ohne Hotelübernachtung ermöglichen.

Vor mehr als einem Jahr haben wir den „Lunaliner“ vorgestellt – als Konzept für ein europäisches vertaktetes Nachtzugnetz mit vielen Direktverbindungen zwischen den großen europäischen Metropolen. Dieser Vorschlag für eine Schienenverkehrsstrategie sorgte für viel Aufmerksamkeit und Zustimmung von Fachleuten – auch wenn die Deutsche Bahn AG (DB AG) sich beeilte zu betonen, dass das natürlich eine realitätsferne Utopie und mitnichten umsetzbar sei. Seit vielen Jahren gibt es bereits einen beständigen und deutlich hörbaren Protest gegen die schleichend fortgesetzte Abschaffung der Nachtzüge. Fast alle großen Medien haben größere Hintergrundberichte über die Situation der Nachtzüge veröffentlicht – fast durchweg mit dem Unterton, dass die Abschaffung ein Verlust von Reisekultur und nicht nachvollziehbar sei.

Protest gegen die Abschaffung der Nachtzüge in Zürich (www.umverkehr.ch).

Dennoch hat die DB AG als wichtigstes Bahnunternehmen im Herzen Europas ihren gesamten Nachtzugverkehr im Dezember 2016 eingestellt – und die verbliebenen Autozüge gleich mit. Wobei man hier mit den Begriffen genau sein muss, denn das Staatsunternehmen übt sich wieder einmal im „Neusprech“: Man betreibe nämlich durchaus noch Nachtzüge, sogar mehr als vorher. Nur dass es sich dabei um ganz normale InterCity- und ICE-Züge handelt, in denen man nur sitzend reisen und kaum schlafen kann und die überdies nicht die klassischen Nachtzugziele in den Nachbarländern bedienen. Die DB AG bietet in diesen Zügen – gegen Aufpreis – Schlafbrillen, Ohrstöpsel, Kissen und Decken an, damit die Fahrgäste doch einmal einnicken können. Das ist leider keine Satire, sondern völlig ernst gemeint.

Immerhin ist aber ein minimales Rumpf-Netz erhalten geblieben – dank der österreichischen Nachbarn. Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) haben nämlich einige Linien sowie zahlreiche Schlaf- und Liegewagen von der DB übernommen. So betreiben sie jetzt unter anderem den Nachtzug zwischen Hamburg, Berlin und Zürich, obwohl dieser Österreich überhaupt nicht berührt. Der ÖBB-Nachtzug bietet auf einigen Strecken auch die Mitnahme von Autos und Motorrädern an (von Fahrrädern sowieso) und wird damit auch zum Autozug. Anders als die Deutschen sehen die ÖBB eine Zukunft in der Branche und vermarkten die Züge mit dem Argument des Komforts unter der neuen Marke „NightJet“. Damit sind sie offensichtlich höchst erfolgreich: Die Fahrgastzahlen sind stark angestiegen, und auch mit den Erlösen ist das ÖBB-Management höchst zufrieden.

Damit ist das Management der Deutschen Bahn gleich zweimal der Lüge überführt worden: Als vor drei Jahren das Nachtzugnetz zunehmend ausgedünnt wurde und unter anderem die gut gebuchte Verbindung zwischen Berlin und Paris eingestellt wurde, hieß es immer wieder, dass die Nachfrage abnehme. Tatsächlich waren die DB-Nachtzüge trotz der zunehmenden Vernachlässigung aber bis zur Einstellung gut gebucht, sogar mit steigender Tendenz – was der damalige DB-Vorstand Ulrich Homburg in einer Anhörung im Bundestag auch schließlich eingestehen musste.[1] Fortan hieß es aus dem DB-Management, dass die Verluste mit der Nachtzugsparte zu hoch seien, um einen Weiterbetrieb verantworten zu können. Dieses Argument war immer umstritten, unter anderem weil das DB-Management horrende und nicht nachvollziehbare Kosten für ihren „Overhead“ einrechnete. Und nun sind die ÖBB offensichtlich nach der Übernahme auch mit den ehemaligen DB-Linien höchst zufrieden und erwirtschaften dort sogar Gewinne. Dabei kann man durchaus darüber streiten, ob jeder einzelne Zug einen Gewinn erwirtschaften muss oder ob es nicht auch ausreicht, wenn seine Wirkung auf das Gesamtnetz positiv ist – weil z.B. Nachzug-Fahrgäste andere Züge als Zubringer oder in der Gegenrichtung nutzen.

Warum beharrt die DB AG dennoch derart hartnäckig auf der Abschaffung der Züge, obwohl die öffentliche Meinung – auch als Resultat der aktiven Kampagne – ganz überwiegend gegen diesen Schritt ist? Über die Gründe kann man nur spekulieren. Für die DB AG handelt es sich um eine extrem kleine Sparte, die keine großen Margen verspricht. Sie versteht sich als „Global Player“ im internationalen Logistikgeschäft; da stören solche kleinen, vermeintlich unbedeutenden Sparten, noch dazu mit so vielen besonderen Erfordernissen und vergleichsweise hohem Personaleinsatz. Es fehlt ganz offensichtlich eine Vision, wie man die Nachtzüge modern und noch attraktiver machen kann – obwohl es auch hier vielversprechende Ansätze wie Studien für neue Wagendesigns gab.

Erfolgreich sind aber nicht nur die echten Nachtzüge der ÖBB, sondern auch die Nacht-IC(E)s der DB AG. Offensichtlich gibt es eine wachsende Gruppe von Über-Nacht-Reisenden, was auch die gut gebuchten Nacht-Fernbusse untermauern. Schon zuvor führten aber die klassischen Nachtzüge zusätzlich Sitzwagen für die Fahrgäste mit, die mit sehr geringem Budget reisen oder nur einen kleinen Teil der Strecke zurücklegen. Es gibt keinen zwingenden Grund dafür, warum diese Züge nicht auch weiterhin sowohl Sitz- als auch Schlaf- und Liegewagen mitführen könnten, um unterschiedliche Kundengruppen anzusprechen.

Leider ist das verbliebene Netz von echten Nachtzügen damit schon jetzt extrem ausgedünnt, und auch EuroCity-Verbindungen tagsüber werden schleichend immer weniger. So wurde jüngst der EC Vindobona auf der Verbindung Berlin – Wien eingestellt. Dazu kommt nun noch die Ankündigung, dass auch der bisher von der Ungarischen MÁV Start betriebene Nachtzug von Berlin nach Wien und Budapest (und in Gegenrichtung) im Dezember eingestellt wird.

Auch bei den osteuropäischen Nachbarn scheint sich Nachtzug-Müdigkeit breit zu machen. Die Verlierer dieser Entwicklung sind die Fahrgäste, die kaum noch die Möglichkeit haben, auch lange Strecken komfortabel mit der Bahn zurücklegen zu können, und die Beschäftigen, für deren Arbeitsplätze die Regierung sich anders als bei der Autoindustrie nicht ins Zeug legt. Der größte Verlierer ist und bleibt das Klima, da den Fahrgästen meist nur das Flugzeug als Alternative bleibt.

Es ändert sich auch nichts an der strukturellen Benachteiligung der Nachtzüge: Während deren Ticket 19 Prozent Mehrwertsteuer umfasst, sind grenzüberschreitende Flüge mehrwertsteuerbefreit. Die Bahn zahlt volle Energiesteuer und EEG-Umlage; der für das Klima besonders schädliche Luftverkehr ist hingegen von der Kerosinsteuer befreit. Und diese Liste ließe sich noch weiter fortsetzen: Tatsächlich wird mit den finanziellen und verkehrspolitischen Rahmenbedingungen genau der Verkehr bevorzugt, der die größten Schäden für Menschen und Klima verursacht. Die EU gibt zwar vor, den grenzüberschreitenden Bahnverkehr zu fördern, indem sie technische Standards vereinheitlicht. Das wahre Problem liegt aber ganz woanders, nämlich einerseits in der steuerlichen Benachteiligung und andererseits in der neoliberalen Ideologie der gegenseitigen Konkurrenz zwischen den Bahnunternehmen, die eine produktive Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg verhindert.

Heute ist das grenzüberschreitende europäische Bahnnetz – insbesondere über Nacht – nur noch ein schwacher Schatten dessen, was es vor einigen Jahrzehnten gab – trotz moderner Technik und riesiger Investitionen in Hochgeschwindigkeitsstrecken in fast allen Ländern. Es wäre höchste Zeit, die rein wettbewerbsorientierte Politik der EU und der Regierung in Berlin, die nicht nur bei der Bahn solche fatalen Auswirkungen hat, grundlegend zu verändern, um die europäische Einigung endlich auch auf der Schiene zu ermöglichen.

 

 

Dieser Beitrag erschien in leicht veränderter Form auch in Lunapark 21 Nr. 39 (September 2017)

[1] Siehe Protokoll des Bundestags-Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur 18/26 vom 14.1.2015.

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