Fahrradstraßen in Berlin – gute Idee, schlecht umgesetzt

Der Fahrradverkehr soll gefördert und ausgebaut werden – da sind sich zumindest in den Sonntagsreden alle Verkehrs- und Kommunalpolitikerinnen und -politiker einig. Schließlich ist das Fahrrad gemeinsam mit dem Zu-Fuß-Gehen das umwelt- und klimafreundlichste Verkehrsmittel überhaupt. Eine der Maßnahmen zur Förderung: Seit 1997 gibt es die Fahrradstraße als neue Straßenkategorie in der StVO. Fahrradstraßen sind – wie der Name schon sagt – ausschließlich dem Fahrradverkehr vorbehalten. Fahrradfahrende dürfen hier explizit auch nebeneinander fahren, und falls auch Anliegerverkehr von Autos zugelassen ist, so gilt dafür eine Maximalgeschwindigkeit von 30 km/h. Außerdem die klare Ansage: „Radfahrer dürfen weder gefährdet noch behindert werden. Wenn nötig, muss der Kraftfahrzeugführer die Geschwindigkeit weiter verringern.“ Soweit die schöne Theorie.

Auch Berlin hat sich offiziell der Förderung des Fahrradverkehrs verschrieben und ein Fahrrad-Hauptroutennetz definiert, das allerdings nur sehr langsam umgesetzt wird. Auf diesen Hauptrouten gibt es seit einigen Jahren auch einige Fahrradstraßen, beispielsweise die Bergmannstraße in Kreuzberg oder die Linienstraße und die Choriner Straße in Mitte/Prenzlauer Berg. Für viele Radfahrende stellen diese Straßen inzwischen beliebte Strecken für den täglichen Weg zur Arbeit dar; an manchem Morgen bilden sich schon regelrechte Fahrrad-Staus. Allerdings zeigen sich dabei auch die Schwächen, die aus einer sehr halbherzigen Umsetzung des Konzepts resultieren:

Zuerst einmal haben die Berliner Fahrradstraßen als echte Hauptstadt-Besonderheit zahlreiche „Löcher“. Sie hören nämlich vor jeder Kreuzung auf und fangen danach wieder an. Nicht nur, dass dadurch zahlreiche zusätzliche Schilder aufgestellt werden müssen, diese „Löcher“ verhindern auch eine Nutzung der Fahrradstraßen im eigentlich beabsichtigten Sinne. An jeder Kreuzung darf man für einige Meter eben nicht mehr nebeneinander fahren, man muss auf den Querverkehr von rechts warten, und es gilt kein Tempo 30 und erhöhte Vorsicht für die Autofahrenden. Mehrere der Kreuzungen von Fahrradstraßen mit „normalen“ Straßen sind dazu extrem gefährlich. So kreuzt beispielsweise die Linienstraße – eine der wichtigsten Fahrradrouten durch die Stadt und von vielen hundert Fahrradfahrenden jeden Tag benutzt – die Rosenthaler Straße an einer Stelle, wo diese dreispurig von viel Verkehr und oft sehr schnell befahren wird. Die Kreuzung ist dazu extrem unübersichtlich, insbesondere nachdem erst vor kurzem – die Berliner Baupolitik lässt grüßen – ein neues Hotel mitten in die Sichtachse gebaut wurde. Für eine bessere Kreuzungsregelung beispielsweise mit einer Ampel ist laut dem zuständigen Bezirksamt Mitte kein Geld vorhanden. Es wäre nicht das erste Mal, dass erst nach einem schweren Unfall Maßnahmen getroffen werden, um eine sichere Querung zu ermöglichen. So wird ein erhebliches Unfallrisiko für die Fahrradfahrenden aufgrund der unübersichtlichen Querung in Kauf genommen.

Dass die Fahrradstraßen auch für den Anliegerverkehr freigegeben sind, lässt sich in Wohnstraßen wohl kaum anders realisieren. Allerdings tut die Stadt nichts dafür, die Benutzung auch tatsächlich auf den Anliegerverkehr zu reduzieren. Man sieht täglich hunderte Autos, insbesondere Taxis, die die Fahrradstraßen als Ausweichstrecken zu den überfüllten Hauptverkehrsstraßen nutzen und mit deutlich zu hoher Geschwindigkeit auf der ganzen Länge durchfahren – ganz offensichtlich kein Anliegerverkehr. Das wird auch dadurch begünstigt, dass die Hinweisschilder extrem klein sind und so versteckt aufgestellt wurden, als würde sich die Stadt für die Ausweisung der Fahrradstraße insgeheim schämen. Für Autofahrerinnen und -fahrer, die von außen auf die Fahrradstraßen einbiegen, ist auch in der Regel erst zu spät sichtbar, dass es sich um eine Fahrradstraße handelt. Erst nach dem Abbiegen stehen sie – wenn sie es denn sehen und kennen – vor dem Fahrradstraßenschild, aber in dem Moment werden wohl die wenigsten umkehren. Da die Beschränkung des Autoverkehrs auf Anlieger aber ohnehin nicht kontrolliert wird, haben sie letztendlich auch nichts zu befürchten. Im Übrigen wird der Autoverkehr auch von gängigen Navigationssystemen nach wie vor unerschrocken ohne einen Hinweis durch die Fahrradstraßen geleitet. So scheint beispielsweise das beliebte Google Maps die erwähnte Choriner Straße – eigentlich Fahrradstraße auf der ganzen Länge Fahrradstraße sowie die Linienstraße – nach wie vor für ganz normale Durchgangsstraßen zu halten. Dadurch wird die Fahrradstraße im Endeffekt zu einer ganz normalen Wohnstraße.

Google Maps durch die Fahrradstraße

Google Maps leitet die Autofahrenden noch immer unerschrocken durch sämtliche Fahrradstraßen. Offensichtlich hat sich die deutsche Regelung noch nicht bis Kalifornien herumgesprochen.

Bei der Einrichtung der Fahrradstraßen wurden diese nicht nur beschildert, sondern auch baulich verändert. Optisch sollten sie schmaler werden und dadurch den Verkehr entschleunigen – an sich keine schlechte Idee. Dies wurde jedoch absurderweise dadurch umgesetzt, dass zusätzliche Parkplätze eingerichtet wurden. Es sind zwar auch einige Fahrrad-Abstellanlagen dabei, aber prinzipiell erhöht die erhöhte Anzahl an Auto-Parkplätzen wiederum den Autoverkehr in den Straßen. Außerdem sind die Straßen an einigen Stellen dadurch so eng, dass der Auto- und Lieferverkehr immer wieder blockiert wird und sich dadurch in der Folge auch der Fahrradverkehr staut – eine weitere Folge des eigentlich illegalen aber nicht kontrollierten Auto-Durchgangsverkehrs.

Nicht durchdacht ist leider auch die Einbettung der Fahrradstraßen in das Gesamtnetz. Die Linienstraße wird beispielsweise von vielen gerne auf dem Weg zur Arbeit um das Berliner Regierungsviertel genutzt – hier hat die Fahrradstraße trotz der schlechten Umsetzung viele neue Nutzerinnen und Nutzer dazugewonnen. Sobald die Radlerinnen und Radler jedoch nach dem Ende der Fahrradstraße auf die Friedrichstraße einbiegen, befinden sie sich plötzlich mitten im normalen, sehr engen Verkehr. Bei der Planung hat offensichtlich niemand daran gedacht, dass der ganze Fahrradverkehr, den man mit der Fahrradstraße quasi „aufsaugt“, am Ende der Straße auch irgendwo hin muss. Als Folge schiebt sich täglich eine Masse von Fahrrädern über den Bürgersteig in der Friedrichstraße – sehr zum verständlichen Ärger der dortigen Fußgängerinnen und Fußgänger.

Übrigens verschwindet die Fahrradstraße auch im Falle von Baustellen einfach wieder aus der Welt. Sie wird dann schlichtweg vollständig gesperrt, ohne dass es Warnschilder oder gar eine Umfahrung gäbe. So lockt man die Fahrradfahrenden erst auf die Fahrradstraße und lässt sie dann einfach ohne Vorwarnung an einer Baustellenabsperrung stehen. Auch bei der Schneeräumung scheinen die Fahrradstraßen geringste Priorität zu besitzen: Tage nach dem letzten Schneefall, wenn alle anderen Straßen längst sauber geräumt sind, sind die Fahrradstraßen als einzige noch voll mit Schnee und Eis, und nur wenige schliddern mit ihren Fahrrädern darauf herum. Das gleiche gilt übrigens auch für die Berliner Fahrradwege, die ebenfalls prinzipiell nicht geräumt werden. Stattdessen schiebt der Räumdienst häufig sogar noch den Schnee auf die Wege. Offensichtlich sieht der Berliner Senat das Fahrrad als ein reines Schönwetter-Verkehrsmittel an.

Lassen sich die Berliner Fahrradstraßen verbessern – oder sind die Probleme einfach unvermeidlich? Eine konsequentere Umsetzung der Fahrradstraßen wäre durchaus möglich, wenn man dafür entgegen der vorherrschenden Berliner Politik auch eine gewisse Einschränkung des Autoverkehrs zu akzeptieren bereit wäre.
So wäre es ein enormer Fortschritt, die Fahrradstraßen als durchgehende Vorfahrtstraßen auszuweisen – dann könnte man diese mit dem Fahrrad sehr viel angenehmer und sicherer befahren. In der Mitte jedes Blocks sollte darüber hinaus eine Barriere installiert werden, die nur mit dem Fahrrad umfahren werden kann. So verhindert man den Auto-Durchgangsverkehr, während trotzdem alle Anlieger problemlos bis zu ihrem Haus kommen. Ein solches Modell ist in Abb. X skizziert. Bislang argumentiert das Bezirksamt Mitte mit der Feuerwehr gegen dieses Modell, die dann angeblich nicht mehr durchkäme. Da die Einsatzkräfte jedoch die Orte der Barrieren genau kennen, können sie diese genau wie der Anwohnerverkehr umgehen und schnell zu jedem notwendigen Ort gelangen. Alternativ mögliche teure Lösungen mit versenkbaren Pollern dürften also nicht einmal notwendig sein. Als weitere Maßnahme müssten die Fahrradstraßen an ihren Enden unbedingt durch Fahrradstreifen ergänzt werden, auf denen der Fahrradverkehr weiter geleitet werden kann.

Vorschlag zur Verbesserung der Fahrradstraße

Vorschlag für eine fahradfreundlichere Organisation der Linienstraße als Fahrradstraße in Berlin-Mitte – ohne die Notwendigkeit des Vorfahrt-Gewährens und mit Verhinderung von Auto-Durchgangsverkehr.

Die Berliner Fahrradstraßen sind ein weiteres Beispiel dafür, wie eine eigentlich gut gemeinte Idee aufgrund einer halbherzigen Umsetzung ihren Nutzen für eine Veränderung des Verkehrs nur eingeschränkt entfalten kann. Leider ist die deutsche Hauptstadt alles andere als eine Vorbild-Stadt, was die Fahrradinfrastruktur angeht. Dabei hätte die Stadt eine Menge Potenzial: Sie ist sehr flach ist und bietet eigentlich auch genügend Platz für eine gute Fahrradinfrastruktur. Noch immer baut die Stadt jedoch extrem unsichere Fahrradwege auf den Bürgersteigen hinter den parkenden Autos – einer der Gründe, weshalb jedes Jahr gut zehn Fahrradfahrende in der Stadt sterben; viele dieser Unfälle wären auch durch eine bessere Infrastruktur vermeidbar. Trotz allem wächst der Fahrradverkehr in der Stadt seit Jahren und hat inzwischen einen Modal Split von immerhin 13 Prozent (Stand 2008) – aber nicht wegen, sondern trotz der Infrastruktur. Im letzten Jahr hat die Stadt nun auch den Posten des Fahrradbeauftragten wieder abgeschafft. Offizielle Begründung des Senats: Der Fahrradverkehr sei so gut in der gesamten Verwaltung verankert, dass ein solcher gar nicht mehr nötig sei. Der tatsächliche Grund: Es hat sich niemand gefunden, der diesen Job mit viel Arbeit aber ohne Vergütung, eigenes Budget und vor allem ohne politische Einflussmöglichkeit noch machen wollte. Wie so oft hat die Stadt für eine entschiedenere Förderung des Fahrradverkehrs kein Geld – während gleichzeitig Milliarden für ein Flughafenexperiment im märkischen Sand versinken. Andere Städte leisten sich hingegen ganze Teams, die sich um den Fahrradverkehr kümmern. Die Stadt Frankfurt am Main hat beispielsweise ein vierköpfiges Team von Hauptamtlichen dafür. Hier hat Berlin also offensichtlich noch einigen Nachholbedarf.

 

Dieser Artikel erschien gedruckt in Mobilogisch! 2/2013

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