Der Wettbewerb im Schienenpersonennahverkehr – ein Auslaufmodell?

Der Wettbewerb im Nahverkehr auf der Schiene gilt als der einzig wirkliche Erfolg der Bahnreform von 1994. Seit dem 1.1.1996 ist der Betrieb von Regionalzügen nicht mehr automatisch eine Aufgabe der Deutschen Bahn AG als Nachfolgering der früheren Bundes- und der Reichsbahn, sondern die Verantwortung dafür ist auf die Bundesländer übergegangen – die sogenannte Regionalisierung. Die Länder können nun unterschiedliche Eisenbahnverkehrsunternehmen damit beauftragen die Regionalzüge zu fahren. Seitdem fahren in vielen Regionen moderne Züge in dichterem Takt, und die Fahrgastzahlen haben vielfach stark zugenommen. Zudem sind die Preise für die Bestellung von Zugleistungen deutlich gesunken, so dass die Aufgabenträger (die Länder selbst oder von diesen Beauftragte Institutionen wie Verkehrsverbünde) für das gleiche Geld deutlich mehr Verkehr bestellen konnten. Daher wird der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) immer wieder als ein Paradebeispiel für die positiven Auswirkungen des Wettbewerbs angeführt.

Die Grafik zeigt die Steigerung der Fahrgastzahlen im SPNV seit der Wiedervereinigung. Seitdem ist die Zahl der Reisenden im SPNV fast verdoppelt worden. Der Aufwärtstrend begann allerdings schon vor der Regionalisierung, die seit dem 1.1.1996 gilt.

Tatsächlich ist ein Teil dieser Steigerungen auf zusätzliche Effekte zurückzuführen, unter anderem den Wegfall der InterRegio-Züge, die bis zum Anfang der 2000er Jahre vor allem viele Fahrgäste auf Strecken mittlerer Länge transportierten. Viele dieser Fahrgäste wurden in den Nahverkehr gedrängt, der durch die Einführung der Regional-Express-Züge (RE) die Lücke der InterRegios versuchte zu füllen. Ein weiterer Effekt ist die stetige Zunahme der Pendeldistanzen zur Arbeit.[1] Aber auch jenseits dieser Effekte bleibt eine erhebliche Steigerung, die auf das verbesserte SPNV-Angebot zurückzuführen sein dürfte.

Anfangs war das Potenzial für Verbesserungen im SPNV vor allem deswegen groß, weil sowohl die Bundesbahn im Westen als auch die Reichsbahn im Osten des Landes das Segment Nahverkehr lange vernachlässigt hatten. Die modernen Dieseltriebwagen im Taktverkehr auf Nebenstrecken statt der vielfach eingesetzten Kurzzüge mit alten Wagen und Dieselloks waren für die Fahrgäste attraktiv und gleichzeitig viel günstiger im Betrieb. Auch auf den elektrisch betriebenen Hauptstrecken gingen mit der Zeit immer mehr moderne Züge – teilweise von der Deutschen Bahn AG und teilweise von anderen Betreibern – aufs Gleis.[2] Hinzu kam, dass der gesamte SPNV über die Regionalisierungsmittel, die der Bund an die Länder auszahlt, seitdem wesentlich besser finanziert ist und daher auch mehr Verbindungen geschaffen und an einigen Stellen sogar stillgelegte Strecken erfolgreich reaktiviert werden konnten. Moderne Fahrplankonzepte – etwa regionale Taktfahrpläne – sorgten zusätzlich für eine höhere Attraktivität.

Der Eindruck, dass hier plötzlich eine Vielzahl von privaten Bahnunternehmen dem großen Platzhirsch Deutsche Bahn AG das Fürchten gelehrt hat, ist allerdings nur eingeschränkt richtig. Tatsächlich sind es – neben der nach wie vor erfolgreichen Deutsche-Bahn-Tochter DB Regio, die wiederum eigene regionale Tochterunternehmen betreibt – vor allem die Tochterunternehmen anderer europäischer Staatsbahnen, die viele der Ausschreibungen für sich gewinnen konnten (z.B. Abellio, Keolis oder Netinera), außerdem Unternehmen im (teilweisen oder ganzen) Besitz von Kommunen, Landkreisen und Ländern. Reine Privatunternehmen sind hingegen eher die Ausnahme.[3] Im Gegenzug betreibt die Deutsche Bahn AG – meist über ihr Tochterunternehmen DB Arriva – in vielen anderen europäischen Ländern Regionalzüge und vielfach auch Busse.

Dieser Wettbewerb erzeugt aber selbst wiederum hohe Kosten. Zum einen ist dies der Ausschreibungsprozess selbst: Sowohl auf Seiten der Aufgabenträger als auch bei den Unternehmen sind Personal und oft auch externe Beratung notwendig, um die Ausschreibung vorzubereiten bzw. Angebote zu erstellen. Die Unternehmen erstellen ihre Angebote dann oft vergeblich, da letztlich nur eines den Zuschlag erhält. Die Kosten für die vergeblichen Angebote müssen sie auf den Betrieb an anderer Stelle umlegen. Der ausschreibende Verkehrsverbund oder das Land muss darüber hinaus nicht nur den Prozess der Ausschreibung begleiten, sondern später auch den Betrieb überwachen. Auch dadurch entstehen zusätzliche Kosten. Negativ wirkt sich zudem die Aufteilung der Aufgaben aus: Jedes Unternehmen hat seinen eigenen Planungsstab, seine eigene Ausschreibungsabteilung und ein eigenes Management. In vielen Fällen müssen überdies parallele Werkstätten oder zusätzliche Züge als Reservekapazitäten unterhalten werden. Bei all solchen Aufgaben sparen größere Organisationsstrukturen aufgrund der Synergieeffekte Kosten ein, sofern sie gut organisiert sind – die Aufteilung auf parallele Strukturen erhöht diese Kosten jedoch umgekehrt. Und während die Nahverkehrsverträge im Schnitt über zwölf Jahre abgeschlossen werden, sind die Züge meist auf eine Nutzungsdauer von 25 bis 30 Jahren ausgelegt. Wenn der Aufgabenträger keine Wiedereinsatzgarantie für die Züge gibt, entstehen dadurch Risiken für das Unternehmen, die wiederum als Kosten eingerechnet werden müssen.

Dazu kommt aber auch noch das Risiko, dass das Betreiberunternehmen den Vertrag nicht ordnungsgemäß erfüllt, Nachforderungen stellt oder sogar bankrottgeht. In einem solchen Falle gibt es in der Regel kein anderes Unternehmen, das den Verkehr von einem Tag auf den anderen übernehmen könnte. Die Konsequenz davon ist, dass die Unternehmen den Aufgabenträgern gegenüber ein hohes Erpressungspotenzial für Nachforderungen haben. Dass solche Risiken nicht nur graue Theorie sind, zeigen die tatsächlichen Fälle in den letzten Monaten:

  • Sowohl im Dieselnetz Sachsen-Anhalt (Abellio) als auch im SPNV in Baden-Württemberg (Go-Ahead, National Express, Abellio) kam und kommt es immer wieder zu Zugausfällen aufgrund von fehlendem Personal (insbesondere Lokführer) und technischen Problemen.
  • Auch die verspätete Auslieferung von neuen Zügen (u.a. ebenfalls im SPNV von Baden-Württemberg) sorgt immer wieder für Probleme bei Betriebsübernahmen.
  • Die Städtebahn Sachsen ist im Juli 2019 in die Insolvenz gegangen, wodurch mehrere Regionalbahnlinien über Wochen nicht mehr betrieben werden konnten.
  • Bei der S-Bahn Rhein-Ruhr musste die Vergabe für den Betrieb von zwei S-Bahn Linien an das Unternehmen Keolis im September im Herbst 2019 – nur zweieinhalb Monate vor Betriebsübernahme – wieder zurückgezogen werden, weil das Unternehmen nicht genug Personal einstellte. Die dadurch erforderliche Notvergabe an die DB AG war nur mit Glück in der Kürze der Zeit möglich, verursacht nun aber nochmals Zusatzkosten.

Es ist keine Seltenheit, dass die Unternehmen sich bei ihren Angeboten für den Betrieb von Strecken verkalkulieren und dadurch in wirtschaftliche Probleme kommen. Ein Grund dafür sind Kostensteigerungen beim Personal durch höhere Tarifverträge und verbesserte Arbeitsbedingungen.[4] Aus diesem Grund können die mit der Deutschen Bahn AG konkurrierenden SPNV-Unternehmen immer weniger Lohndumping betreiben, was in der Anfangszeit des Wettbewerbs häufig ihr Vorteil gegenüber der tarifgebundenen Deutschen Bahn AG war – auf Kosten der Mitarbeitenden.

Um diese Risiken möglichst gering zu halten, geben die Aufgabenträger bei den Ausschreibungen immer mehr Parameter vor – womit den Unternehmen immer weniger die Möglichkeit für kreative Lösungen bleibt. So stehen die Fahrpläne mit der Ausschreibung in der Regel komplett fest, und statt der früher üblichen „Nettoverträge“, bei denen die Fahrgeldeinnahmen direkt an das Betreiberunternehmen gingen (das durch eine Steigerung der Fahrgastzahlen damit zusätzliche Gewinne einfahren konnte), werden inzwischen meist „Bruttoverträge“ ausgeschrieben. Das bedeutet, dass die Einnahmen komplett an den Aufgabenträger gehen, der das Betreiberunternehmen weitgehend unabhängig von den Fahrgastzahlen auszahlt. Zudem sind inzwischen auch die Züge immer häufiger im Besitz der Länder (sog. landeseigene Fahrzeugpools) und werden nur noch von dem Unternehmen, das den Zuschlag erhalten hat, betrieben. Neuerdings hat das Land Baden-Württemberg als erstes Bundesland sogar damit begonnen, sich selbst bei der Ausbildung der Lokführer zu engagieren und diese sogar selbst einzustellen, um Personalengpässen vorzubeugen.

Durch all diese Entwicklungen ist der Ausschreibungswettbewerb zunehmend zu einem Verfahren geworden, bei dem den sich bewerbenden Unternehmen wenig Raum für Innovationen und Kostensenkungen bleibt. Entsprechend bewerben sich auch wenige Unternehmen auf viele aktuelle Ausschreibungen. Gleichzeitig bleiben die oben dargestellten Kosten und Risiken des Wettbewerbs („Transaktionskosten“) hoch, denn der Aufgabenträger muss mit viel Aufwand eine Ausschreibung erstellen, die Unternehmen müssen ihre Angebote schreiben, dann muss der Aufgabenträger diese sichten und bewerten, nachverhandeln und schließlich einen Zuschlag erteilen. Und am Ende muss er auch noch die tatsächliche Qualität des Betriebs überwachen – und ggf. durch Strafzahlungen oder Boni Druck auf das Unternehmen ausüben.

Hinzu kommen neue Herausforderungen durch die zukünftigen technischen Entwicklungen, vor allem die Umstellung der Zugsicherung auf das digitale „European Train Control System“ (ETCS), was viel zusätzliche Technik sowohl an der Strecke als auch an den Fahrzeugen bedeutet, sowie durch den Ersatz des Diesel-Antriebs durch Erneuerbare Energien – auf Nebenstrecken vor allem durch Akkutriebwagen oder bei langen Strecken ohne Oberleitung den Betrieb mit Wasserstoff. Hierfür müssen der Ausbau der Infrastruktur und der Betrieb verstärkt zusammen gedacht und langfristig geplant werden – auch um zu verhindern, dass die Betreiberunternehmen teure Nachforderungen aufgrund der notwendigen technischen Anpassungen stellen. Auch diese Entwicklung stellt den bisherigen Ausschreibungswettbewerb daher zusätzlich in Frage.[5]

In dieser Situation suchen viele Aufgabenträger nach Alternativen zu der bisherigen Ausschreibungspraxis, die diese Nachteile vermeiden. Dabei drängt sich die Möglichkeit einer Direktvergabe an ein landeseigenes Unternehmen auf. Ein solches Unternehmen hat den großen Vorteil, dass es nicht gewinnorientiert arbeiten muss, sondern dass seine einzige Aufgabe die Gewährleistung eines guten Verkehrs nach dem Wunsch des Landes ist und es in diesem Rahmen lediglich kostendeckend arbeiten muss. Das Land kann also direkt Zielvorgaben machen, und es lassen sich überdies neue Synergien – z.B. bei der technischen Expertise – zwischen Land und landeseigenem Unternehmen schaffen und damit Kosten sparen.

Gemäß EU-Recht (EU-Verordnung 1370/2007) ist eine solche Direktvergabe rechtlich möglich – unter Bedingungen sogar für Verbindungen, die mehrere Bundesländer umfassen. Bisher ist dies allerdings nur in Ausnahmen so praktiziert worden. Einige Bundesländer haben bereits Landesbahnen oder andere Bahnen im Landesbesitz – oder könnten ein Bahnunternehmen für eine solche Direktvergabe übernehmen. Für den Freistaat Thüringen hat eine Gruppe von Institutionenökonomen, Bahnexperten und Juristen kürzlich eine Studie zu den verschiedenen Optionen erstellt und empfiehlt eine solche Direktvergabe als günstigste Möglichkeit. Neben der Vermeidung von Risiken und Nachteilen des Ausschreibungswettbewerbs könnten ihrer Analyse zufolge Kosten eingespart und Synergien geschaffen werden – vor allem mit Blick auf die Etablierung der neuen Technologien.[6]

Leider geschieht in der Hauptstadt Berlin gerade genau das Gegenteil: Hier versucht sich die Verkehrssenatorin gerade an einer extrem komplizierten Ausschreibung, die zu einem Betrieb dieses hochkomplexen Systems durch eine Vielzahl unterschiedlicher Unternehmen führen könnte – anstatt des bisherigen Betriebs aus einer Hand durch die S-Bahn Berlin GmbH, eine Deutsche-Bahn-Tochter. Auch hier wäre die Umwandlung in ein gemeinsames Unternehmen in Hand der Länder Berlin und Brandenburg (in dem viele der S-Bahn-Linien enden) in Kooperation mit dem Bund (durch die Deutsche Bahn AG) möglich und eine günstigere und risikoärmere Alternative zu der nun gestarteten Ausschreibung.[7]

 


Anmerkungen

[1] Zwischen 2000 und 2014 hat die durchschnittliche Distanz in Deutschland um 21 Prozent zugenommen. Vgl. Dauth, W. & Haller, P. (2018): Berufliches Pendeln zwischen Wohn- und Arbeitsort – Klarer Trend zu längeren Pendeldistanzen. IAB Kurzberichte No. 10, http://doku.iab.de/kurzber/2018/kb1018.pdf

[2] Vgl. Becker, T., Leister, H., Beckers, T., Wichmann, A. & Weiß, H. (2020): Optionen und Empfehlungen bezüglich der Weiterentwicklung der Organisation der Leistungserbringung im Thüringer SPNV. Studie im Auftrag der Staatskanzlei des Freistaats Thüringen, https://www.uni-weimar.de/fileadmin/user/fak/bauing/professuren_institute/Infrastrukturwirtschaft_und-management/Forschung/Publikationen/2020/becker_et_al_2020-organisation_der_leistungserbringung_im_thueringer_spnv-v80ext.pdf; Seite 13f

[3] Vgl. dazu auch den Artikel http://mobilitaetswen.de/erfolgreiche-bahnen-privat-muss-nicht-sein/

[4] Vgl. Becker, T., Leister, H., Beckers, T., Wichmann, A. & Weiß, H. (2020), a.a.O.; Seite 15f

[5] vgl. Becker, T., Leister, H., Beckers, T., Wichmann, A. & Weiß, H. (2020), a.a.O.; Seite 17f

[6] Becker, T., Leister, H., Beckers, T., Wichmann, A. & Weiß, H. (2020), a.a.O.

[7] Eine ausführliche und sehr lesenswerte Analyse von Felix Thoma dazu findet sich hier: https://www.zukunft-mobilitaet.net/171299/analyse/zukunft-s-bahn-berlin-ausschreibung-alternativkonzepte-landeseigentum/

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