Macht eine Reservierungspflicht im Bahn-Fernverkehr Sinn?

Im Zuge der Corona-Krise wird momentan viel über eine Reservierungspflicht im Fernverkehr der Deutschen Bahn diskutiert, um eine zu hohe Dichte in den Zügen zu verhindern. In den Hochgeschwindigkeitssystemen einiger anderer Länder, beispielsweise in Frankreich oder Japan, gilt eine solche Reservierungspflicht schon seit langer Zeit, und auch in den ICE-Sprintern der Deutschen Bahn gab es von 2002 bis 2015 eine Pflicht zur Reservierung, um mitfahren zu können – verbunden mit dem damaligen Sprinter-Aufpreis. Seitdem wurden die Sprinter stärker in das ICE-System integriert, und es gelten die gleichen Bedingungen wie in anderen ICEs, ohne Pflichtreservierung. Bislang lehnt die DB AG eine generelle Reservierungspflicht im ICE- und IC-Verkehr unter Verweis auf die Flexibilität des Reisens ab, unterstützt von Fahrgastverbänden.

Für eine generelle Reservierungspflicht spricht die bessere Verteilung der Fahrgäste im Zug und die Verhinderung von überfüllten Zügen – denn wenn alle verfügbaren Plätze belegt sind, kann niemand mehr zusteigen. Das ist momentan natürlich vor allem mit Blick auf die Corona-Pandemie und das Abstandhalten im Zug von Bedeutung, weshalb die Diskussion über die Reservierungspflicht gerade intensiv geführt wird. Zudem würde aber auch das Ein- und Aussteigen an den Bahnhöfen beschleunigt, so dass einige Verspätungen verhindert oder zumindest reduziert werden könnten.

Aber es gibt auch gewichtige Argumente gegen eine solche Pflichtreservierung im Fernverkehr. Sie würde die Flexibilität beim Bahnfahren erheblich einschränken, da man nicht mehr wie bisher mit einem entsprechenden Ticket in einen beliebigen Zug einsteigen könnte. Das trifft ganz besonders die Kundinnen und Kunden mit einer BahnCard 100, die letztlich viel Geld für eben diese Flexibilität zahlen. Mit dem von der Deutschen Bahn betriebenen Trend zu zuggebundenen Spar- und „Super“-Sparpreisen ist diese Flexibilität für viele Fahrgäste ohnehin schon erheblich eingeschränkt bzw. kostet einen hohen Aufpreis.[1] Die Flexibilität ist jedoch für viele Menschen ein entscheidendes Kriterium für die Wahl zwischen Bahn und Auto. Die Bahn kann zwar nicht ganz die gleiche Flexibilität wie das Auto bieten, mit Verbindungen im Stunden- oder künftig immer häufiger sogar Halbstundentakt aber doch gut mithalten. Gegenüber dem Luftverkehr hat sie damit außerdem einen deutlichen Vorteil, denn dort kann man eben nicht spontan in das nächste Flugzeug einsteigen. Mit der Reservierungspflicht wäre diese Flexibilität vor allem zu stark nachgefragten Reisezeiten, wo auch eine kurzfristige Reservierung nicht möglich sein wird, aber völlig dahin.

Hinzu kommt die Frage, was im Falle von verspäteten und ausgefallenen Zügen passiert – leider im deutschen Bahnnetz eine alltägliche Erscheinung. Dann könnten die Fahrgäste ganz besonders an nachfragestarken Reisetagen aufgrund der Reservierungspflicht nicht den nächstbesten alternativen Zug benutzen wie bisher, möglicherweise müssten sie viele Züge abwarten, bis am Abend wieder freie Plätze verfügbar sind. Und es stellt sich auch die Frage, wie effektiv eine Reservierungspflicht zur Vermeidung von Ansteckungen wäre, wenn die Fahrgäste vor oder nach ihrer Reise im IC oder ICE in einen überfüllten Regionalzug steigen, wo sie dann trotzdem dicht gedrängt mit anderen Fahrgästen sitzen oder stehen müssen.

Warum funktioniert eine Reservierungspflicht beispielsweise in den französischen TGVs, dem Thalys zwischen Amsterdam, Brüssel, Köln/Düsseldorf und Paris oder im Eurostar nach London dennoch? Zuerst einmal: Aufgrund dieser Pflicht ist man beim Reisen mit dem TGV eben nicht so flexibel wie – bisher noch – im deutschen ICE oder IC; für stark nachgefragte Züge muss man wochenlang vorher buchen. Allerdings ist die Struktur in Frankreich und ebenso bei den beschriebenen Verkehren eine andere als im deutschen Fernverkehr: Diese Züge legen lange Strecken mit wenigen Zwischenhalten zurück und sind oft stark gebucht. Der Grund ist vor allem die Struktur Frankreichs mit Paris als zentralem Zentrum und Ursprung bzw. Ziel der meisten Züge und großen Entfernungen zu den meisten anderen relevanten Städten. Die hauptsächliche Konkurrenz der Züge auf diesen Entfernungen ist meist das Flugzeug – auch ein Grund für die deutlich höheren Geschwindigkeiten im französischen Netz. Deutschland hat hingegen eine dichtere und kleinteiligere Struktur mit vielen wesentlich kürzeren Reisen, wo eher das Auto als das Flugzeug im Wettbewerb mit der Bahn steht. Dennoch stellt sich natürlich auch bei den TGVs, Thalys und Eurostar die Frage, ob ein flexibles Angebot möglicherweise mehr Menschen in diese Züge locken könnte.

Auch mit einer Reservierungspflicht lässt sich das grundsätzliche Dilemma des öffentlichen Verkehrs in Zeiten von Corona dabei nicht lösen: Wenn man ausreichenden Abstand zwischen den Fahrgästen gewährleisten will, kann maximal ein Platz pro Sitz-Paar genutzt werden – außer für gemeinsam reisende Menschen aus dem gleichen Haushalt. Eigentlich müsste man bei weniger als 90 cm Sitzabstand sogar immer eine Reihe komplett frei lassen, und auch an den Tischen dürften keine fremden Fahrgäste gemeinsam sitzen. Das bedeutet aber, dass nicht einmal mehr halb so viele Menschen wie bislang in den Zügen Platz finden würden. Da kurzfristig keine weiteren ICEs und ICs verfügbar sind, wären die bestehenden Verbindungen somit schnell ausgebucht, und viele Menschen könnten gar nicht mehr mit dem Zug fahren. Zudem wäre der Betrieb sämtlicher Fernverkehrszüge hoch unwirtschaftlich – es sei denn, die Deutsche Bahn würde die Preise erheblich erhöhen. Und es stellt sich die Frage, warum eine solch hohe Dichte an Fahrgästen in der Bahn untersagt werden sollte, während sie im Flugzeug weiter erlaubt ist – auch hier aus rein wirtschaftlichen Gründen. Die Mär von der angeblich Operationssaal-sauberen Luft im Flugzeug ist bereits widerlegt[2], in Zügen kann dafür immerhin viel Frischluft von außen zugeführt werden, anstatt sie im Fahrzeug umzuwälzen. Letztlich muss man aber in allen öffentlichen Verkehrsmitteln zumindest bislang auf die Wirkung der „Community-Masken“ vertrauen, sobald es enger wird.

Übrigens rächt sich nun, dass die Deutsche Bahn bei den neuesten ICE-4-Zügen und beim Umbau der älteren ICE-Generationen sämtliche Abteile abgeschafft hat – meist sogar die Familienabteile[3]. Der Grund dafür war vor allem, dass noch mehr Fahrgäste in den Wagen Platz finden sollten; letztlich geht es um Kosteneinsparungen. Nun ist aber in Zeiten von Corona genau das Gegenteil angesagt, nämlich möglichst großer Abstand zwischen den Reisenden. Abteilwände sind eine gute Möglichkeit, um das Ansteckungsrisiko auf wenige Mitreisende im Abteil zu minimieren; insbesondere für Risikogruppen könnten Abteile daher ein sinnvolles Angebot sein. Der Innenausbau der Züge lässt sich jetzt auf die Schnelle natürlich nicht ändern, aber für das Design zukünftiger Züge und die Redesigns der existierenden Züge sollten die Ingenieure dies durchaus im Auge behalten, vor allem wenn uns das Thema Covid-19-Pandemie erwartungsgemäß auch weiter beschäftigen wird.

Eine sinnvolle Forderung an die Deutsche Bahn ist in jedem Falle, dass sie ihr Reservierungssystem umstellen sollte, und auch die von den Verbraucherzentralen geforderte kostenfreie Reservierung könnte einen Beitrag leisten. Statt die Fahrgäste wie bisher Wagen für Wagen zu reservieren, sollten diese möglichst gleichmäßig und dadurch mit möglichst viel Abstand zwischen den Wagen verteilt werden. Vielleicht ließe sich sogar ein Kompromissmodell aus Reservierungspflicht und Flexibilität finden, indem man einige Wagen reservierungspflichtig macht, wo sich dann Reisende mit Reservierung – vor allem solche aus Risikogruppen – zumindest auf einen gewissen Mindestabstand verlassen könnten, während in den anderen Wagen ein flexibler Zustieg möglich bleibt, man aber je nach Reisendenaufkommen mit größerer Enge leben muss. Es ist aber durchaus fraglich, ob das wirklich funktionieren könnte, wenn ein Zug insgesamt stark gebucht ist, und sich die Fahrgäste in den flexibel nutzbaren Wagen dann umso mehr drängeln müssten, während in den reservierten Wagen Sitze frei bleiben.

 


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu auch die Kritik des DB-Tarifsystems: http://mobilitaetswen.de/die-bahn-braucht-keine-hoeheren-preise-sondern-ein-kundenfreundliches-transparentes-tarifsystem/

[2] https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-08/coronavirus-ansteckungsrisiko-hepa-filter-klimaanlage-bus-bahn-flugzeug-buero?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

[3] Familienabteile gibt es nur noch in den ICE-1- und einigen ICE-T-Zügen, was oft einen erheblichen Lärmpegel und damit stressiges Reisen in den offenen Familienbereichen zur Folge hat. Immerhin ist bislang (noch) in jedem Zug ein Kleinkinderabteil verfügbar.

Ein Gedanke zu „Macht eine Reservierungspflicht im Bahn-Fernverkehr Sinn?“

  1. Hervorragender Artikel. Das Problem ist, dass keine der beiden Optionen in allen Fällen Vorteile bringt. Weil sich die Vorteile und Nachteile so gleichmäßig verteilen, ist es die Herausforderung, der man nicht einmal mit Tests auf bestimmten Strecken beikommt.

    DANKE für die Lektüre. Grüße
    Peter Bach jr.

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