In Anbetracht der Klimakrise können wir uns zukünftig nur noch einen Bruchteil der heutigen Flugreisen leisten. Diese wenigen Reisen müssen zudem aus Gerechtigkeitsgründen auf wesentlich mehr Menschen als bisher aufgeteilt werden, da ein großer Teil der Menschheit bis heute noch nie in einem Flugzeug gesessen hat, während ein kleiner Teil aus den reichen Industrieländern massive Emissionen mit teilweise mehreren Flugreisen pro Jahr verursacht. Wenn wir einigermaßen klimafreundlich leben wollen, wird für jede und jeden von uns maximal eine Flugreise alle paar Jahre möglich sein. Diese Reisen machen dann nur für solche Strecken Sinn, die kaum anders zurückgelegt werden können – etwa Transatlantikreisen. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir auf Flugreisen innerhalb Europas weitgehend verzichten müssen. Ein solcher Verzicht würde sogar breite Unterstützung finden: Fast zwei Drittel der EU-Bürger gaben in einer Umfrage an, dass sie ein Verbot von Kurzstreckenflügen als Klimaschutzmaßnahme befürworten würden – sogar mit einer sehr großzügigen Definition von „Kurzstrecken“ als solchen, die mit 12 Stunden Zugfahrt erreichbar wären.[1]
Ein Teil der Reisen kann im Sinne der notwendigen Abkehr vom Paradigma des Wachstums und des „immer mehr“ wegfallen. Die Covid-19-Pandemie hat hier in gewisser Weise als Katalysator der Entwicklung gewirkt, weil uns deutlich geworden ist, dass nicht jede Reise wirklich notwendig ist – und dass ein Verzicht manchmal auch ein Gewinn an Zeit und Lebensqualität sein kann. Viele Besprechungen finden auch europaweit inzwischen per Videokonferenz statt, was noch vor zwei Jahren eine Nischen-Erscheinung war und vielen technisch schwierig schien. Trotzdem wird es auch weiterhin einen Bedarf nach Reisen durch Europa geben: Urlaubsreisen, kultureller Austausch und Bildung, Besuche sowie berufliche und politische Treffen wird es auch weiterhin geben. Das geeinte Europa lebt auch davon, dass wir andere Länder und die dortigen Menschen kennenlernen können.
Das naheliegende Verkehrsmittel für Reisen in Europa ist die Bahn. Wir haben das Glück, dass wir – anders als beispielsweise Nord- und Südamerika – ein relativ dichtes und gut ausgebautes Schienennetz haben, auch wenn es hier an vielen Stellen weiteren Verbesserungsbedarf gibt. Bisher ist das grenzüberschreitende Reisen aber dennoch oft beschwerlich, teuer und manchmal fast unmöglich. Das Schienennetz ist vielfach eher für den nationalen als für den internationalen Verkehr ausgebaut, und zu oft gibt es keine durchgehenden Züge. Die Kombination mehrerer Züge ist jedoch unkomfortabel und mit Wartezeiten und Verspätungsrisiken verbunden. Vor allem zahlreiche Nachtzugverbindungen – darunter klassische Züge wie zwischen Paris und Berlin oder zwischen Amsterdam und Warschau – sind in den letzten Jahren leider weggefallen; von dem früheren Netz internationaler Züge ist nur noch ein Bruchteil übrig.[2] Die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) sind momentan die einzigen, die in Mitteleuropa noch ein nennenswertes Nachtzugnetz betreiben – und allmählich sogar wieder ausweiten.
Immer wieder werden Visionen eines europaweiten Super-Hochgeschwindigkeitsschienennnetzes mit Geschwindigkeiten von 350 km/h und mehr präsentiert.[3] Dagegen sprechen jedoch gewichtige Argumente: Zuerst einmal würde es Jahrzehnte dauern, ein solches Netz zu realisieren, denn es würde letztlich fast auf einen kompletten Neubau hinauslaufen – und diese Zeit haben wir in Anbetracht der akuten Klimakrise nicht mehr. Dazu kommt das Klima als grundsätzliches Argument: Da solche Hochgeschwindigkeitsstrecken sehr gerade verlaufen müssen, führen sie nicht nur zur Zerstörung von Naturräumen, sondern sind auch in aller Regel mit einer Vielzahl an Brücken und Tunnels verbunden, die viel Stahl und Beton im Bau benötigen und damit für eine schlechte Klimabilanz sorgen. Bisher wird diese für den Bau von Bahnstrecken benötigte „graue Energie“ kaum berücksichtigt, sondern es wird selbstverständlich angenommen, dass neue Bahnstrecken immer positiv für das Klima seien – ein Trugschluss. Und auch der Betrieb bei solchen Geschwindigkeiten ist enorm energieaufwändig. Nicht zuletzt kosten solche Neubaustrecken viele Milliarden Euro, die an anderer Stelle – auch für viele notwendige Ausbaumaßnahmen im bestehenden Bahnnetz – sehr viel sinnvoller eingesetzt wären.
Für Strecken bis 1000 Kilometer sind Nachtzüge schon heute eine bequeme und klimaschonende Art des Reisens – ohne die Notwendigkeit von Neubaustrecken. Würde man ihre Geschwindigkeit maßvoll erhöhen und auch bereits existierende Schnellstrecken mit nutzen, wären auch bis zu 1.600 Kilometer über eine Nacht denkbar. Eine Wieder-Ausweitung des Nachtzugnetzes ist daher eine zwingende Voraussetzung für die Verlagerung des europäischen Verkehrs auf die Schiene. Aber was ist mit noch weiteren Strecken, etwa Reisen von Deutschland nach Spanien, Süditalien, Griechenland oder Nordskandinavien? Auch hier könnte die Bahn zu einer echten Alternative werden, wenn sie auch auf den Fernstrecken als echtes Netz konzipiert wäre. Langlaufende Tages- und Nachtzüge müssten jeweils in Knotenpunkten zusammenlaufen, so wie dies schon heute in Wien der Fall ist und für Brüssel und Berlin bereits in Studien untersucht wurde. Für die sehr langen Reisen würde man also zunächst zum ersten Knoten in der richtigen Richtung reisen – und hätte dort die Wahl: Wer es eilig hat, wechselt direkt zwischen dem Tages- und Nachtzug und kann seine Reise so mit einem Umstieg fortsetzen. Wer eher nach der Philosophie „der Weg ist das Ziel“ reisen möchte, kommt mit dem ersten Nachtzug an, genießt einen Tag in der Stadt oder besucht alte Bekannte und reist am Abend mit dem nächsten Nachtzug dem Ziel entgegen. So kann das entschleunigte Reisen mit der Bahn zu einem Mehrwert gegenüber der Flugreise werden.
An den großen Knotenbahnhöfen könnte man entsprechende „Fernreise-Lounges“ einrichten, um die Reise so angenehm wie möglich zu machen – mit einem Frühstücksangebot und Duschen für die Ankommenden oder Weiterreisenden, Gepäckaufbewahrung für die, die erst am Abend weiterreisen möchten. Dabei sollten die Fernreisezüge jedoch nicht nur an den großen Knotenbahnhöfen halten, sondern auch viele andere Orte auf der Strecke mit anbinden, um so weitere Umsteigemöglichkeiten in die nationalen Bahnnetze zu schaffen.
Ein solches wahrhaft europäisches Bahnnetz ist zwar noch eine Utopie – aber es wäre innerhalb weniger Jahre umsetzbar. Dass es durchaus einen Bedarf für das entschleunigte, aber angenehme Reisen mit dem Zug gibt, zeigen Slow-Travel-Zeitschriften wie „Der Passagier“. Im Wettbewerb der Bahnunternehmen, wie ihn die EU bisher propagiert, dürfte die Umsetzung jedoch schwierig werden. Notwendig wäre stattdessen eine Kooperation der Bahnen – warum nicht als großer Zusammenschluss, die „United Railways of Europe“?
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Lunapark 21, Ausgabe 57 (März 2022).
Anmerkungen:
[1] Umfrage der Bertelsmann-Stiftung, „EUpinions“ im November 2020: What Europeans say they will do to combat climate change. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/user_upload/eupinions_brief_Climate_Change.pdf
[2] Siehe dazu auch den Artikel zum Niedergang der Nachtzüge: http://mobilitaetswen.de/die-nachtzuege-schon-wieder-das-ende-eines-zugsystems/
[3] vgl. prominent den Leitartikel von Michael Jäger in „Der Freitag“ Nr. 28/2020, nachzulesen unter https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/klimarettung-im-superzug-von-lissabon-nach-helsinki-mit-350-stundenkilometern – und die Reaktion von Bernhard Knierim darauf in der gleichen Zeitung Nr. 31/2020, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/flugscham-es-braucht-zugstolz – oder zusammengefasst hier: http://mobilitaetswen.de/ausbaustrategie-des-bahnnetzes-ein-super-hochgeschwindigkeitsnetz-zur-klimarettung/